Seit dem Ausbruch der Krise 2008 waren migrationsfeindliche Parteien und Bewegungen sowohl in Europa wie auch in den Vereinigten Staaten auf dem Vormarsch. Sie haben es sogar geschafft, gewisse Schichten der ArbeiterInnenklasse für ihr Programm zu gewinnen. Das führte dazu, dass ein Teil der ArbeiterInnenbewegung begonnen hat, sich diesen Ideen anzupassen.

Sie fordern striktere Grenzkontrollen und rechtfertigen diese Position mit Marxzitaten. Solche kurzsichtigen Forderungen haben nichts zu tun mit Marx oder den Traditionen der ersten, zweiten oder dritten Internationale, wie wir aufzeigen werden.

Marx über Brexit

Diese Diskussionen fanden vor allem auch rund um die Brexit-Frage statt. Besonders rechte PolitikerInnen haben die Schlussfolgerung gezogen, der Grund für den Brexit sei der Rassismus unter den ArbeiterInnen gewesen. Deshalb sollten wir „ihre Sorgen ernstnehmen“. Das wirkte sich auch auf die Gewerkschaftsbewegung aus. Eine Reihe führender Gewerkschaftssekretäre hat sich auf die eine oder andere Weise für eine härtere Beschränkung der Migration ausgesprochen.

Am 19. Dezember verfasste Len McCluskey, Anführer von Unite the Union, einen Artikel mit dem Titel „ein zweites Brexit-Referendum riskiert, unsere Gesellschaft auseinanderzureissen“. Im Allgemeinen ist es eine reflektierte Kritik der Bewegung für ein zweites Referendum, welche tatsächlich droht, die Labour Partei auseinanderzureissen. Aber in diesem Artikel geht McCluskey auch auf das Thema Grenzkontrollen ein. Er fordert ein Ende des Imports von TemporärarbeiterInnen, wo dies die lokalen Arbeitsbedingungen untergräbt:

Das Prinzip ist einfach: Stelle sicher, dass jeder den selben Lohn erhält; dass Gewerkschaftsvereinbarungen gelten und dass dem skandalösen Import von Temporärarbeit durch skrupellose Firmen, für die das billiger ist, als lokale ArbeiterInnen einzustellen, ein Ende gemacht wird. Migrantische ArbeiterInnen trifft keine Schuld dafür. Es ist das System, welches den gierigen Bossen erlaubt, alle ArbeiterInnen zu missbrauchen. Darüber schweigt May.

Das ist korrekt. Die Labour-Bewegung muss kämpfen gegen jeden Versuch, ihre Errungenschaften zu unterminieren. Das schliesst das Arbeitnehmer-Entsendegesetz der EU ein, welches im Grunde dem Import von StreikbrecherInnen aus anderen Teilen Europas Tür und Tor geöffnet hat. Allerdings fährt er dann fort und überschreitet dabei die Grenze zwischen einer korrekten Position und einer gefährlichen:

Die ArbeiterInnenbewegung wird immer gegen den Rassismus kämpfen – und auch gegen die Ausbeutung. Und jeder Gewerkschafter wird wissen, dass unsere Stärke immer untermauert werden muss durch die Kontrolle des Angebots an Arbeitskraft – ein deregulierter freier Markt funktioniert für die Arbeitskraft nicht besser als für irgendeinen anderen Bereich des Lebens.

Diese Rhetorik des gesunden Menschenverstandes versteckt eine ziemlich üble Forderung: dass wir es den KapitalistInnen erlauben sollten, das Angebot an Arbeitskräften zu bestimmen. Er impliziert, dass irgendwie die Gewerkschaften das Angebot kontrollieren könnten. Aber er spricht es nicht aus, weil er weiss, dass das nicht auf der Tagesordnung steht. Er meint, dass der bürgerliche Staat die Migration kontrollieren soll – an dessen Spitze im Moment eine sehr gewerkschaftsfeindliche Regierung steht. In Wahrheit ist das eine Forderung nach einer Begrenzung der Migration durch die Bürgerlichen, nicht nach einer Kontrolle der Zuwanderung durch die ArbeiterInnenbewegung. Wenn er für so genannte „Closed Shops“ argumentieren würde, wo nur Gewerkschaftsmitglieder arbeiten dürfen, würden MarxistInnen keinen Grund finden zu widersprechen. Aber das ist nicht, was er hier sagt.

Natürlich könnte man argumentieren, dass die Dinge sich ändern würden, wenn die Labour Partei an die Macht käme. Aber es würde nichts Grundlegendes ändern. Der Staat bliebe ein bürgerlicher Staat und das ökonomische System bliebe kapitalistisch. Es ist eine naive Vorstellung, dass das grösstenteils rechte Beamtentum einen Vorschlag für ein Immigrationsniveau machen würde, das der ArbeiterInnenbewegung statt dem Grosskapital nützen würde. In Wahrheit weiss McCluskey, dass er auf wackligem Boden steht. Das ist der Grund ist, warum er versucht, Marx und antikapitalistische Rhetorik zu verwenden, um seine Position zu verteidigen.

Die Kunst der aus dem Kontext gerissenen Zitaten

Am 24. Dezember 2016 veröffentlichte McCluskey im Rahmen seiner Wiederwahlkampagne einen Artikel im Morning Star, der Zeitung der Kommunistischen Partei Britanniens. Der Artikel ist ganz klar gegen Len McCluskeys linken Gegner, Ian Allinson, gerichtet, der ein paar Tage zuvor einen Artikel geschrieben hatte, welcher das Recht der ArbeiterInnen auf Bewegungsfreiheit verteidigt.

Nebst anderen Argumenten führt Allinson das Beispiel von Frauen am Arbeitsplatz auf. Und diese Analogie passt. Die Forderung, dass Frauen dem Arbeitsmarkt und den Gewerkschaften fernbleiben sollen, war eine reaktionäre, spalterische Forderung. Sie half den Bossen, verschiedene Löhne für Frauen und Männer durchzusetzen und damit auch die Arbeits- und Lohnbedingungen der Männer zu untergraben. All diese Argumente gegen die Anwesenheit migrantischer ArbeiterInnen, wurden in der Vergangenheit bereits gegen Frauen vorgebracht. Es gibt keinen Grund, MigrantInnen anders zu behandeln.

Um seine Position zu verteidigen, zitiert McCluskey Marx‘ Ansprache an die Erste Internationale zur Vorbereitung des Lausanner Kongresses:

Die Kämpfe der englischen Arbeiterklasse studierend, gewahrt man wie die Fabrikherren, um ihren Arbeitern zu widerstehen, sowohl fremde Arbeiter kommen, als auch die Waren dort anfertigen lassen, wo die Arbeitslöhne billiger stehen.

Aus diesem kleinen Ausschnitt versucht McCluskey zu schliessen, dass Marx Grenzkontrollen unterstützte. Aber wenn wir den vollen Paragraphen lesen, erhalten wir ein völlig anderes Bild:

Die Macht des menschlichen Individuums ist vor der Macht des Kapitals verschwunden, in der Fabrik ist der Arbeiter nichts weiter als ein Rädchen im Getriebe. Um seine Individualität wiederzugewinnen, musste der Arbeiter sich mit anderen verbünden und Vereinigungen schaffen, um seinen Lohn und sein Leben zu verteidigen. Bis heute sind diese Vereinigungen rein lokal geblieben, während die Macht des Kapitals, dank seinen industriellen Neuerungen, jeden Tag wächst; desweitern sind in vielen Fällen nationale Vereinigungen machtlos geworden: Eine Untersuchung des Kampfes der englischen Arbeiterklasse zeigt auf, dass die Fabrikherren, um die Arbeiterklasse zu bekämpfen, entweder Arbeiter aus dem Ausland holen oder die Manufakturen in Länder verlagern, wo es billige Arbeitskräfte gibt. Unter diesen Bedingungen müssen die nationalen Organisationen international werden, insofern die Arbeiterklasse wünscht, in ihrem Kampf überhaupt noch eine Chance auf den Sieg zu haben.

Marx, On the Lausanne Congress

Marx erkennt das Problem: UnternehmerInnen nutzen nationale Spaltungen und Grenzen, um die ArbeiterInnen gegeneinander auszuspielen. Seine Lösung dafür ist jedoch nicht „gesteuerte Migration“, sondern internationale Organisierung. Marx ruft nach verstärkter Zusammenarbeit zwischen den ArbeiterInnenbewegungen verschiedener Länder. In der Tat stammt dieses spezifische Zitat vom Lausanner Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation (der Ersten Internationalen), deren Aufbau Marx sich verschrieb.

Der eigentliche Vorschlag, den McCluskey in seinem Artikel macht – das Verbot für UnternehmerInnen, Arbeitskräfte ohne gewerkschaftliche Vereinbarungen zu importieren – bedeutet in Wahrheit nicht sehr viel. Aber die Rhetorik spielt auf sehr viel mehr an. Tatsächlich stellt der Artikel einen Versuch dar, ein linkes Feigenblatt für „gesteuerte Migration“ zu schaffen, womit er ganz klar eine Zuwanderungsbeschränkung meint. Das war der Sammelbegriff für die Migrationspolitik der Labour Partei für die letzten zwei Jahrzehnte, von Tony Blairs Gefangenenlager bis hin zu Browns Slogan „Britische Jobs für britische ArbeiterInnen“ (2007 an einer Gewerkschaftskonferenz lanciert) und Milibands Werbetassen für die „Kontrolle der Zuwanderung“.

Um seine Befürwortung von Grenzkontrollen zu verteidigen, zitiert McCluskey Marx sehr selektiv und versteckt dessen Hauptpunkt zur Notwendigkeit des Internationalismus und der Einheit von lokalen und migrantischen Arbeitskräften./Bild: Flickr Garryknight

Eine korrekte Forderung wäre hingegen (und McCluskey stellte diese am 19.12.2018 in seinem Artikel auch tatsächlich auf), den Bossen zu verbieten, fremde ArbeiterInnen zu niedrigeren Löhnen einzustellen als die bereits ansässigen ArbeiterInnen erhalten. Das war Teil eines Programms, das von Marx abgesegnet wurde.

Ein Beispiel, aus der Geschichte von McCluskeys eigener Gewerkschaft, sind die viel diskutierten Streiks bei der Lindsey Ölraffinerie. ArbeiterInnen kämpften gegen genau so ein Aushöhlen ihrer Arbeitsbedingungen durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. In diesem  Streik haben lokale BetriebsrätInnen für einen internationalistischen Standpunkt gegen die RassistInnen des Establishments gekämpft, welche erfolglos versucht haben, die Führung des Streiks an sich zu reissen. Die BetriebsrätInnen forderten, dass für alle ArbeiterInnen, unabhängig ihrer Nationalität, dieselben Arbeitsbedingungen gelten sollen. Der Kampf hatte Erfolg, nachdem die ausländischen ArbeiterInnen für den Streik gewonnen werden konnten. Das hätte niemals erreicht werden können, wenn die Kampagne auch nur im Geringsten fremdenfeindlich gewesen wäre.

Die Art Rhetorik, welche McCluskey verwendet, hätte es schwieriger gemacht, die ausländischen ArbeiterInnen für die Forderungen der britischen ArbeiterInnen zu gewinnen. Die damalige Gewerkschaftsbürokratie war im Übrigen empfänglich für den fremdenfeindlichen Slogan der Boulevardpresse (welche ihn ihrerseits von Gordon Brown übernahm): „Britische Jobs für britische ArbeiterInnen“. Dieser Slogan wurde vom damaligen Gewerkschaftsführer Derek Simpson aufgenommen, der als Linker galt. Offensichtlich waren die ArbeiterInnen fähig, in ihrem Kampf eine viel bessere Position zu dieser Frage zu entwickeln, als die Gewerkschaftsspitze.

Im Übrigen bezeichnete ein Teil der Linken – immer darauf erpicht, Spuren von Rassismus in der ArbeiterInnenklasse ausfindig zu machen – den Streik als rassistisch und lehnten ihn ab. Derartige ultralinke Dummheiten helfen nur den Bossen und hätten weniger klassenbewusste in die Arme der RassistInnen getrieben.

In diesem Streit lagen die ArbeiterInnen richtig und die GewerkschaftsführerInnen komplett falsch. Das ist kein Zufall. Die ArbeiterInnen erfahren im Kampf die Notwendigkeit, sich mit ihren Brüdern und Schwestern aus anderen Ländern zu verbünden. Es ist die engstirnige, reformistische Mentalität, welche die Gewerkschaftsführung dazu bringt, immer eine für die KapitalistInnen akzeptable Lösung zu finden.

Man möchte hinzufügen, dass im 19. und frühen 20. Jahrhundert StreikbrecherInnen oft aus anderen Ländern importiert wurden. Als Marx die Erste Internationale aufbaute, war eine ihrer ersten Aufgaben, solche Praktiken zu bekämpfen. Wie wurde das getan? Indem migrantische ArbeiterInnen für die Gewerkschaft gewonnen und über die Internationale Verbindungen zwischen ArbeiterInnen in verschiedenen Ländern geschaffen wurden.

Der Erfolg der Ersten Internationalen hatte den ArbeiterInnen, besonders in Grossbritannien, die Wichtigkeit des Internationalismus bewiesen. Dieselben Methoden wurden von der Zweiten Internationalen mit grossem Erfolg eingesetzt. Es wäre Marx nie in den Sinn gekommen, sich für Grenzkontrollen einzusetzen. Es liegen Welten zwischen der Forderung, dass alle ArbeiterInnen in Grossbritannien für denselben Lohn und unter denselben Arbeitsbedingungen arbeiten sollen, und der Forderung nach einem Verbot oder einer Begrenzung ausländischer ArbeiterInnen. Die erstere vereint die ArbeiterInnenklasse, die letztere spaltet sie.

Das ethisch-politische Problem bei Žižek

Slavoj Žižek liebt die Kontroverse. Manchmal trifft er den Punkt, aber er ist viel besser darin, Doppelmoral und Widersprüche in Denken anderer zu sehen, als selber eine Alternative zu formulieren. Das trifft auch in der Migrationsfrage zu.

Aus welchem Grund auch immer schweift Žižek in seinem Artikel über die französischen Gelbwesten ab, und schreibt über die Migrations- und Flüchtlingsfrage:

Dasselbe gilt für unser grosses ethisch-politisches Problem: Was tun mit den Flüchtlingsströmen? Die Lösung ist nicht einfach die Grenzen zu öffnen für alle, die reinwollen und diese Offenheit aus unserem allgemeinen Schuldgefühl abzuleiten (‚unser Kolonialismus ist unser grösstes Verbrechen, für das wir für immer Busse tun müssen‘). Wenn wir auf dieser Ebene bleiben, dienen wir den Interessen der MachthaberInnen, welche den Konflikt zwischen MigrantInnen und der lokalen ArbeiterInnenklasse (welche sich von diesen bedroht fühlt) befeuern, und ihre Haltung der moralischen Überlegenheit bewahren.

Diese Analyse kratzt nur an der Oberfläche. Natürlich gibt es in der Flüchtlingsfrage kleinbürgerliches Moralisieren. Sehr viele Wohltätigkeitsorganisationen lieben es, sich mit Flüchtlingen zu befassen, insbesondere, wenn sie weit weg sind auf einem anderen Kontinent. Es ist jedoch völlig unzulänglich, das festzustellen und es der Frage des Klassenkampfs entgegenzustellen. Tatsächlich gibt es auch eine starken Sinn für Solidarität zwischen ArbeiterInnen verschiedener Hintergründe und das war wichtiger in der Refugees Welcome Bewegung als irgendwelche ethischen Überlegungen oder irgendein Schuldgefühl.

Wie so viele Mittelschichtsintellektuelle sieht Žižek ArbeiterInnen als desinteressiert an internationaler Solidarität oder theoretischen Aspekten des Klassenkampfs./Bild: Flickr, Secom UnB

Wie so viele Mittelschichtsintellektuelle sieht Žižek ArbeiterInnen als desinteressiert an internationaler Solidarität oder theoretischen Aspekten des Klassenkampfs, und nur am nächsten Zahltag interessiert. Darin, wie sie dieses Thema behandeln, zeigen solche Intellektuelle ihre geringe Wertschätzung der ArbeiterInnenklasse. Aus einem ähnlichen Grund ist es auch falsch, diese Frage als im Grunde ethische Frage zu stellen und sie als Ablenkung zu bezeichnen, wie er es in diesen Zeilen tut:

Im Moment, wo man anfängt in diese Richtung zu denken, packt die politisch korrekte Linke gleich die Nazikeule aus – siehe die brutalen Angriffe auf Angela Nagle nach ihrem hervorragenden Essay „Das linke Plädoyer gegen offene Grenzen“. Wie gesagt‚ der ‚Widerspruch‘ zwischen den AnhängerInnen offener Grenzen und populistischen Migrationsfeinden ist ein falscher ‚sekundärer Widerspruch‘, dessen Funktion letztlich darin besteht, die Notwendigkeit zu verschleiern, das System selbst zu ändern: das ganze internationale ökonomische System, welches, in seiner jetzigen Form, Flüchtlinge schafft.

Žižek hat natürlich recht, dass der zentrale Kampf sich hauptsächlich um die Veränderung der Gesellschaft drehen muss. Aber in diesem Kampf wird die Flüchtlings- und Migrationsfrage nur verschleiernd wirken, wenn sie falsch gestellt wird. In einem gewissen Sinne tut sein eigener Artikel genau das. Migration und Flüchtlinge sind ein wichtiges Thema, das behandelt werden muss, aber die Antwort muss sozialistisch, nicht moralisch sein.

Marx und die nationale Frage Irlands

Žižek bezieht sich auf einen Artikel von Angela Nagle, veröffentlicht in der Novemberausgabe des konservativen Blatts American Affairs unter dem Titel „Das linke Plädoyer gegen offene Grenzen“. Der Artikel erhielt von der Linken viel Kritik und etwas Lob. Er ist bemerkenswert, weil Nagle ebenfalls versucht Marx zu benutzen, um ihre Ablehnung der Migration zu begründen. Die Passage, welche Nagle ausgewählt hat, ist ein Brief von Marx an zwei amerikanische Mitglieder der Ersten Internationalen:

Irland liefert durch die beständig zunehmende Konzentration der Pachten beständig sein surplus für den englischen Labour market [Arbeitsmarkt] und drückt dadurch wages [Löhne] und materielle und moralische Position der English Working class herab.

Und das Wichtigste! Alle industriellen und kommerziellen Zentren Englands besitzen jetzt eine Arbeiterklasse, die in zwei feindliche Lager gespalten ist, englische proletarians und irische proletarians. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasst den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, welcher den standard of life [Lebensstandard] herabdrückt. Er fühlt sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation und macht sich eben deswegen zum Werkzeug seiner Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland, befestigt damit deren Herrschaft über sich selbst. Er hegt religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen ihn. Er verhält sich ungefähr zu ihm wie die poor white [armen Weissen] zu den niggers in den ehemaligen Sklavenstaaten der amerikanischen Union. Der Irländer pays him back with interest in his own money [zahlt ihm mit gleicher Münze zurück]. Er sieht zugleich in dem englischen Arbeiter den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft in Irland.

Dieser Antagonismus wird künstlich wachgehalten und gesteigert durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz, alle den herrschenden Klassen zu Gebot stehenden Mittel. Dieser Antagonismus ist das Geheimnis der Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation. Er ist das Geheimnis der Machterhaltung der Kapitalistenklasse. Letztre ist sich dessen völlig bewusst.

Das ist eine sehr deutliche Analyse, in der Marx herausstreicht, dass die irischen MigrantInnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen die englischen ArbeiterInnen ausgespielt wurden und dass diese Spaltung dem Klassenkampf in England geschadet hatte. Der Umstand, dass Marx darauf hinwies sollte niemanden wirklich überraschen. Was uns hier interessieren sollte, ist nicht Marx‘ Beobachtungsgabe, sondern die Lösung, die er vorschlägt, welche Nagle als zu unpässlich empfand, um sie anzufügen:

England, als Metropole des Kapitals, als bis jetzt den Weltmarkt beherrschende Macht, ist einstweilen das wichtigste Land für die Arbeiterrevolution, dazu das einzige Land, wo die materiellen Bedingungen dieser Revolution bis zu einem gewissen Reifegrad entwickelt sind. Die soziale Revolution in England zu beschleunigen, daher der wichtigste Gegenstand der Internationalen Arbeiterassoziation. Das einzige Mittel, sie zu beschleunigen, ist die Unabhängigkeitmachung Irlands. Daher Aufgabe der „International“, überall den Konflikt zwischen England und Irland in den Vordergrund zu stellen, überall für Irland offen Partei zu nehmen. Die spezielle Aufgabe des Zentralrats in London, das Bewusstsein in der englischen Arbeiterklasse wachzurufen, dass die nationale Emanzipation Irlands für sie keine question of abstract justice or humanitarian sentiment [Frage des abstrakten Rechts oder menschenfreundlichen Gefühls] ist, sondern the first condition of their own social emancipation [die erste Bedingung für ihre eigene soziale Befreiung]. (Hervorhebung im Original)

Hier geht es wirklich zum Kern der Sache. Marx argumentiert dafür, dass die englischen ArbeiterInnen sich mit den irischen ArbeiterInnen vereinen sollen, indem sie deren Unabhängigkeit unterstützen sollen und dass die Erste Internationale dieses Anliegen aufnehmen soll. Dadurch wären die englischen und irischen ArbeiterInnen vereint in ihrem Kampf gegen das englische Kapital und den englischen Imperialismus. Es sollte angemerkt werden, dass er den englischen ArbeiterInnen die Last auferlegt, diesem Ruf zu folgen, um die irischen ArbeiterInnen auf ihre Seite holen. Das ist etwas ganz anderes als Grenzkontrollen zu fordern.

Nagle scheint das Zitat einfach aus einem Artikel von David L. Wilson im Monthly Review kopiert zu haben. In diesem Artikel argumentiert er, dass es falsch sei, auf diejenigen herabzublicken, die sich Sorgen machen über den Druck auf die Löhne durch die Immigration. Das ist soweit korrekt. Ohne weitere Erklärung kann dieses Argument jedoch leicht missbraucht werden, um etwas ziemlich Reaktionäres zu rechtfertigen. Wilson tut das nicht. Stattdessen verwendet er das Zitat sachgemäss, um für die Einheit der ArbeiterInnenklasse über nationale Grenzen hinweg zu argumentieren: dass wir uns gegen die US-Aussenpolitik stellen und migrantische und nicht-migrantische ArbeiterInnen vereinen müssen. Das ist korrekt. Er kritisiert auch einige besonders bösartige Gesetze der US-Regierung gegen migrantische ArbeiterInnen. Die fundamentale theoretische Frage der Grenzen lässt er jedoch unbeantwortet.

Die Politik von Marx und der Ersten Internationalen hatte nichts gemein mit dem Provinzialismus der heutigen Gewerkschaftsspitze. /Bild: öffentliches Eigentum

Dieser Mangel an Klarheit lässt Raum für andere Interpretationen. Angela Nagle folgt Wilson in dessen Forderung nach einer Bekämpfung von „Fluchtursachen“, welche sie in der Aussenpolitik der USA, den multinationalen Konzernen und der Armut sieht. Während Wilson jedoch gegen Migrationsbeschränkungen argumentiert, weil sie schädlich für die Einheit migrantischer und nichtmigrantischer ArbeiterInnen sind, bezieht Nagle die gegenteilige Position.

Für Nagle scheint es, als wäre schon die Behauptung, dass ein Konflikt zwischen migrantischen und nichtmigrantischen Arbeitskräften existiert, ein Argument für Migrationsbeschränkung. Tatsächlich ist es ein Argument für das Gegenteil. Das Ganze nimmt eine absonderliche Wendung. Nagle nimmt das Marxzitat, das die Verteidigung der demokratischen Rechte der irischen ArbeiterInnen fordert, um für schärfere Massnahmen gegen MigrantInnen zu argumentieren:

Bezüglich illegaler Migration sollte die Linke Bestrebungen zu unterstützen, E-Verify obligatorisch werden zu lassen und sich für harte Sanktionen gegen ArbeitgeberInnen einsetzen, die sich nicht an die Bestimmungen halten. ArbeitgeberInnen, nicht MigrantInnen, sollten der primäre Fokus bei der Durchsetzung dieser Massnahmen sein. Diese ArbeitgeberInnen nutzen MigrantInnen, denen der normale Rechtsschutz fehlt, um eine Abwärtsspirale bei den Löhnen aufrechtzuerhalten, während sie gleichzeitig Lohnsteuern und andere Abgaben für die ArbeiterInnen umgehen. Solche Anreize müssen eliminiert werden, damit alle ArbeiterInnen fair behandelt werden können.
[…]
Genau wie in der Situation, die Marx im damaligen England beschrieb, mobilisieren PolitikerInnen wie Trump ihre Basis, indem sie ausländerfeindliche Stimmungen aufgreifen, aber sie sprechen selten, wenn überhaupt, von der strukturellen Ausbeutung – sei es zu Hause oder im Ausland –, welche die Grundursache für Masseneinwanderung darstellt. Oft machen sie die Angelegenheit noch schlimmer, weiten die Macht der Unternehmer und des Kapitals gegen die ArbeiterInnenklasse aus, während sie gleichzeitig die Wut ihrer UnterstützerInnen – meist die Opfer jener Kräfte – auf andere Opfer, die MigrantInnen, lenken. Aber trotz Trumps Gepolter gegen die Migration hat seine Regierung praktisch nichts getan, um die Umsetzung von E-Verify auszuweiten, stattdessen gibt er lieber mit seiner Mauer an, die nie Wirklichkeit zu werden scheint. Während Familien an der Grenze getrennt werden, schaut die Regierung weg, wenn Arbeitgeber MigrantInnen als Bauernopfer in Arbeitskämpfen einsetzen.

Hier versucht Nagle sich darzustellen, als stünde sie auf der Seite der ArbeiterInnen, in dem sie fordert, dass die UnternehmerInnen gebüsst werden. Tatsächlich machen solche Bussen und Anforderungen migrantische ArbeiterInnen nur noch verwundbarer in ihrer Ausbeutung durch die ArbeitgeberInnen, wie Wilson in seinem Artikel aufzeigt. Gesetze und Überwachung erschaffen eben genau einer Unterschicht von extrem ausgebeuteten MigrantInnen. UnternehmerInnen benutze dubiose Subunternehmen, um solche Massnahmen zu umgehen. Diese Vorschläge lösen nichts. In Wirklichkeit laufen sie im Grunde auf dieselbe reaktionäre Position der alten Anti-ChinesInnen Gesetze von 1882 hinaus, welche Nagle fast schon anerkenned aufführt, wenn sie die unrühmlichen Kapitel aus der Vergangenheit der Amerikanischen Gewerkschaftsföderation AFL diskutiert.

Nagle lässt hier die Frage nach der Kontrolle über die Zufuhr an Arbeitskräften in den Händen der KapitalistInnenklasse. Wenn die KapitalistInnenklasse entscheidet, dass mehr Arbeitskräfte reinkommen sollen, ob legal oder illegal, werden sie mehr reinlassen, falls nicht, dann eben nicht. Die Idee, dass dies die Verhandlungsposition der ArbeiterInnenklasse stärken soll, ist im besten Falle kurzsichtig. Das widerspiegelt die Hoffnung der Gewerkschaftsbürokratie auf ein einfaches Leben.

Solch eine Politik würde einen Keil zwischen legalen und illegalen ArbeiterInnen schlagen und wahrscheinlich zu einer noch stärker geschichteten ArbeiterInnenschaft führen, wo einige mehr Rechte haben, als andere. Man muss allerdings der AFL-CIO zu Gute halten, dass sie in den letzten Jahrzehnten gegen Migrationsgesetze und für leichtere Einbürgerung und das Bleiberecht für MigrantInnen Kampagne gemacht haben. Das ist korrekt und es entspricht dem Programm der Zweiten Internationale, genau weil es aus der Notwendigkeit für die ArbeiterInnenbewegung entspringt, die Arbeitsrechte zu vereinheitlichen, um sich zu vereinen.

Trumka und andere AFL-CIO FührerInnen bestehen jedoch weiterhin auf der Fiktion, die „illegale“ Migration abzuschaffen, was mehr oder weniger das ist, wofür auch Nagle argumentiert. Sie schenken der Rhetorik der Bourgeoisie zu viel Aufmerksamkeit und achten zu wenig auf das, was die Bourgeoisie tatsächlich tut. Der ganze Sinn dahinter, den MigrantInnen verschiedene Rechte zu geben, ob sie unter bestimmten Bedingungen bleiben dürfen oder in der kompletten Illegalität verharren müssen, ist es, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern, und ein extrem ausgebeutetes Segment der ArbeiterInnenklasse zu erschaffen. Genau aus dem Grund können wir nicht erwarten, dass die KapitalistInnenklasse oder ihr Staatsapparat, ein arbeiterfreundliches Migrationssystem schaffen.

Der Mythos der liberalen Bourgeoisie

Um ihren eigenen Opportunismus zu überdecken, bekunden viele linke AnhängerInnen von Migrationsbeschränkungen ihre Opposition zum Liberalismus. Im Versuch, ihre spalterische Politik zu rechtfertigen, beschwören sie in Phrasen den Klassenkonflikt und ihre Gegnerschaft zu den „liberalen Eliten.“ In Wahrheit existieren diese liberalen Eliten gar nicht.

Nach Nagle stimmt Mark Zuckerbergs Kampagne Fwd.us mit den Positionen von linken AnhängerInnen von offenen Grenzen überein. Aber ihr Programm fordert in Wirklichkeit nicht offene, sondern „menschlichere“ und effizientere Grenzen. Zum Beispiel argumentiert Fwd.us, zusammen mit dem Cato Institut, dass Verwahrung zu teuer ist und bezieht sich anerkennend auf den Gebrauch „ekletronischer Fussfesseln, Telephonüberwachung, welche biometrische Stimmerkennungssoftware benutzt, unangekündigte Hausdurchsuchung, Arbeitgeberüberprüfung und persönliche Berichterstattung, um die TeilnehmerInnen zu überwachen“ (Alternatives to Detention Are Cheaper than Universal Detention, Cato Institut). Phase Zwei dieses Programms fing im Jahr 2010 an, zwei Jahre nach Beginn der Obama Regierung. Das ist keine schlechte Veranschaulichung der Unterschiede zwischen der Politik der RepublikanerInnen und der DemokratInnen. Die Ersteren befürworten Lager, die Letzteren elektronische Überwachung, weil es günstiger ist.

Hillary Clinton bestand darauf, dass Europa seine Migration beschränkt /Bild: Flickr Gage Skidmore

Am 22 November bestand Hillary Clinton darauf, dass Europa seine Migration beschränkt:

Ich bewundere die sehr grosszügige und mitfühlende Herangehensweise insbesondere von FührerInnen wie Angela Merkel, aber ich denke, es ist angemessen zu sagen, dass Europa seinen Teil geleistet hat und eine sehr deutliche Botschaft senden muss: ‚Wir werden nicht fähig sein, weiterhin Asyl und Unterstützung zu bieten‘. Denn, wenn wir die Migrationsfrage nicht bewältigen, wird sie den politischen Organismus weiter aufwühlen.

Hillary Clinton, Europe must curb immigration to stop rightwing populists

In anderen Worten: Um die extreme Rechte zu besiegen, müssen wir ihr Programm übernehmen.

Ein weiterer Liebling des Establishments, Tony Blair, stimmt ihr zu:

Man muss sich mit den legitimen Nöten auseinandersetzen und Antworten liefern. Deshalb kann man sich in Europa heute nicht mehr zur Wahl aufstellen lassen kann, wenn man starke Position zur Immigration hat, über die sich die Leute sorgen…
„Man muss diese Probleme beantworten. Wenn man sie nicht beantwortet, dann… hast du ein grosses Feld, in das die PopulistInnen treten können.

Clinton, Blair, Renzi, why we lost, and how to fight back

Blair sagt als begabter bürgerlicher Politiker niemals etwas Eindeutiges zu diesen Fragen, er gibt nur Hinweise. „Wir brauchen eine starke Position zur Immigration“ – aber er sagt nicht, was diese Position sein soll. Man sollte sich erinnern, dass Blairs Migrationspolitik – „gesteuerte Migration“  – das Einrichten von privaten Verwahrungslagern umfasste, in denen MigrantInnen schlimmer als Kriminelle behandelt wurden. Seine Partei verteilte Flyer, welche mit der Verringerung der Anzahl Asylsuchenden prahlten etc. Ein Grossteil des sogenannt „feindlichen Umfelds“, welches von ÄrztInnen, LehrerInnen, DozentInnen, Banken und Grossgrundbesitzer verlangt, die Immigration zu überwachen, existierte in seiner Embryoform schon während den Jahren unter Blair. Man kann also davon ausgehen, dass Blair mehr von demselben vorschlagen würde.

Blairs Verständnis der Wählbarkeitsfrage ist ein bisschen begrenzt. Das Wahlmanifest von Labour vom letzten Jahr war das migrationsfreundlichste seit vielen Jahren mit seiner Ablehnung des „feindlichen Umfelds“ und der unbestimmten Verwahrung. Auch wenn das Manifest etwas unterstützt, was wie eine Art punktebasiertes Migrationssystem erscheint, war das eine klare Abkehr von der kaum verschleierten Liebelei mit der Fremdenfeindlichkeit unter Blair, Brown und Miliband. Auf der Grundlage dieses Manifests hatte Labour sein bestes Wahlresultat seit 1997.

Merkel wird oft als grosse Freundin der ImmigrantInnen gepriesen, doch sie ist nichts dergleichen. Zugegeben, sie gewährte während der Flüchtlingskrise mehr Flüchtlingen Unterkunft als andere Länder, aber das tat sie nicht aus einer allgemeinen Zustimmung zur Immigration. Tatsächlich versuchte sie die Personenfreizügigkeit der EU vor dem kompletten Zusammenbruch zu retten. Damals wurden Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten errichtet. Merkels Politik war ein Weg, den Druck zu verringern, während sie gleichzeitig versuchte die Flüchtlingsströme einzudämmen. Zum Schluss handelte sie einen Deal aus mit Erdogan, der 6 Milliarden erhielt, um die Flüchtlinge mit der Pistole an der Brust in der Türkei zu behalten. So sieht die grosse humanitäre Tradition der Europäischen Union aus.

Ein linkes Feigenblatt für die Bourgeoisie

Der Mythos der liberalen Bourgeoisie existiert sowohl bei der migrationsfreundlichen, wie auch bei der migrationsfeindlichen Linken. Paul Mason, auch wenn er seine Position mehrmals änderte, argumentierte 2016, dass Labour eine Allianz mit dem „globalistischen Teil der Elite“ für einen weichen Brexit schmieden soll. Man findet diese Haltung auch bei der ganzen EU-freundlichen britischen Linken. Sie beziehen sich ständig auf die EU als eine Art progressive Institution. Sie argumentieren für genau dasselbe, auch wenn sie vielleicht nicht dieselben Worte verwenden wie Mason: für eine klassenübergreifende Allianz zwischen den ArbeiterInnen und den Bankern aus London, von denen der Grossteil gegen den Brexit war.

In der USA nimmt dieses Volksfrontlertum Gestalt an in Form der Unterstützung der DemokratInnen (Democratic Party). Auch wenn sie nicht ganz so rechts sind wie Trump, verteidigen auch die DemokratInnen den Grossteil von Trumps Programms. Ihre Hauptkritik ist, dass Trump dieses Programm schlecht aussehen lässt. ICE (Immigration and Customs Enforcement, Zoll- und Migrationsvollzug) ist in Ordnung, aber Kinder sollten zusammen mit ihren Eltern deportiert werden, nicht getrennt. Im oben zitierten Interview sagt Hillary Clinton: zuerst schafft man Kriminelle, Gefahren für die nationale Sicherheit und „schlechte Elemente“ aus, dann gibt man jenen, welche schon lange in den USA leben, einen rechtmässigen Prozess und stellt sie in die Warteschlange. „Leute, die dann noch kommen, schickt man zurück, ausser sie haben Anspruch auf Asyl“. Man kann nur annehmen, dass sie sich hier auf die MigrantInnenkaravane bezieht. Es ist kein Zufall, dass beim ersten Treffen der „Progressiven“ der DemokratInnen nach den Novemberwahlen die versammelten Kongressabgeordneten keine klare Antwort liefern konnte auf die Frage, was ihre Position zum ICE sei. In Wahrheit gaben sie ihre Opposition zum ICE im Sommer auf.

So zu tun als könnte die Bourgeoisie auf irgendeine Art und Weise ein Freund der migrantischen ArbeiterInnen oder ein Verbündeter jener sein, die gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kämpfen, heisst, der Bourgeoisie einen nützlichen Dienst zu erweisen. Man gibt ihr ein linkes, „fortschrittliches“ Feigenblatt. Als MarxistInnen ist unsere Rolle, die reaktionären Bestrebungen beider Teile der Bourgeoisie zu entblössen: sowohl jener, die ihre Interessen hinter einem fortschrittlichen, demokratischen Banner verstecken wie auch jener, die so tun, als wären sie auf der Seite der einheimischen gegen die ausländische ArbeiterInnen.

Unsere wahren Traditionen

Der Stuttgarter Kongress 1907 war der wichtigste Kongress der Zweiten Internationale. Er diskutierte die Kolonien, den Krieg, den Imperialismus, das Frauenstimmrecht, die Gewerkschaften und die Migration. Das war kein Zufall: Es war in diesen Fragen, wo der Opportunismus sein Gesicht am deutlichsten zeigte.

Die rechten OpportunistInnen vor allem aus Grossbritannien, den USA und Deutschland argumentierten am Kongress für Kolonien als eine „zivilisierende“ Kraft, gegen eine harte Linie zum Krieg, gegen Migration aus Ländern, welche „zu rückständig“ seien, für „neutrale“ (d.h. apolitische) Gewerkschaften und für einen Kompromiss bei der Frage des Frauenstimmrechts, insbesondere indem sie das Männerstimmrecht über das Frauenstimmrecht stellten. Am Ende gewann der linke Flügel die Abstimmungen.

Es lohnt sich, bei der Migrationsfrage etwas ins Detail zu gehen. Denn die Argumente, die während dieser Debatten aufgeworfen wurden, waren sehr ähnlich, wie jene, die Nagle und McCluskey vorgebracht haben. Trömer, ein Delegierter der Australischen Labour Party formulierte es wie folgt:

Die Kapitalisten bemühen sich daher um so mehr, asiatische Arbeiter als Lohnbrüder einzuführen. Die einwandernden weissen Arbeiter organisieren sich in kurzer Zeit und drücken nicht die Lebenshaltung für die Australier herab. Die australische Arbeiterpartei will daher alle diejenigen Arbeiter fernhalten, von denen nicht zu erwarten ist, dass sie sich die Lebenshaltung der Weissen aneignen. Das sind eben die Asiaten. [Er glaube,] dass diese Grundsätze der australischen Arbeiterpartei nicht dem Sozialismus widersprächen. […] Gewiss wollen wir alle eine allgemeine Völkerverbrüderung, aber bis wir diese erreichen, müssen wir die Arbeiter unseres Landes schützen, damit sie nicht den Kapitalisten widerstandslos ausgeliefert werden.

Dieselbe Stimmung drückte auch der amerikanische Delegierte Hillquit aus:

Die Kapitalisten importieren solche Arbeitskräfte, die ihrem Wesen nach billiger sein müssen und daher meistens unbewusste Streikbrecherdienste leisten, und den einheimischen Arbeitern gefährliche Konkurrenz machen. Diese Arbeitskräfte sind heutzutage die Chinesen und Japaner, die gelbe Rasse überhaupt. Wir haben durchaus kein Rassenvorurteil gegen die Chinesen, müssen aber konstatieren, dass sie ganz unorganisierbar sind. Ein Volk kann eben nur dann zum Klassenkampf organisiert werden, wenn es bereits in der Entwicklung sehr weit vorgeschritten ist, wie das bei den Belgiern und Italienern der Fall ist, die in Frankreich einwandern. Die Chinesen sind aber in ihrer Entwicklung noch viel zu weit zurück, um organisiert zu werden. Sozialismus will nicht etwa heissen Sentimentalismus. Wir stehen in einem heissen Kampfe, der zwischen Kapital und Arbeit tobt. Wer gegen die organisierte Arbeit ist, ist unser Gegner. Wollen wir nun für fremde Streikbrecher etwa ein Privileg schaffen, während die Einheimischen gegen sie kämpfen müssen? Wenn wir keine Massregeln treffen gegen den Import chinesischer Streikbrecher, dann drängen wir die sozialistische Arbeiterbewegung zurück.

Die Sprache ausgenommen haben wir hier genau dasselbe Phänomen wie bei Nagle und McCluskey. Unter dem Deckmantel einer internationalistischen und klassenkämpferischen Phraseologie befürworten diese Delegierten Angriffe auf die Rechte einer bestimmten Gruppe von ArbeiterInnen. Nicht MigrantInnen im Allgemeinen, natürlich (wo wäre die USA ohne die MigrantInnen?), sondern eine besondere Gruppe von ArbeiterInnen, von denen angenommen wird, dass sie Löhne drücken würden.

Es ist kein Zufall, dass die Gruppe der amerikanischen Mitglieder sich besonders mit der asiatischen Migration beschäftigte. Der amerikanische Kongress hatte nur fünf Jahre zuvor den Chinese Exclusion Act (Verordnung zum Ausschluss der ChinesInnen) von 1882 permanent werden lassen. Er verbot nicht nur die weitere Migration aus China, sondern nahm den chinesischen MigrantInnen auch eine ganze Reihe an Rechten weg. Diese Verordnung wurde schändlicherweise von der AFL unterstützt, wie auch von den kalifornischen Baugewerkschaften. Die linke IWW hatte aktiv gegen die Verordnung gekämpft. In dieser Hinsicht folgten die amerikanischen und australischen Delegierten der Linie der amerikanischen herrschenden Klasse.

Das war im Übrigen das zweite Mal, dass Delegierte der Sozialistischen Partei Amerikas (SPA) dieses Thema aufwarfen. Am Amsterdamer Kongress von 1904 hatte Hillquit eine ähnliche Motion vorgeschlagen. Sie forderte das Ende des Imports von ArbeiterInnen „rückständiger Rassen“. Die Resolution wurde damals von anderen SPA-Delegierten abgelehnt und wie die Resolution von 1907 zurückgezogen. Trotzdem agierte die Mehrheit der SPA durch und durch opportunistisch in der Frage und spielte sogar die Migrationskarte bei Debs’ Präsidentschaftskampagne von 1904 aus, obwohl Debs die Stuttgarter Resolution persönlich ablehnte.

In Stuttgart lehnten Delegierte der Sozialistischen Arbeiterpartei Amerikas (angeführt durch Daniel DeLeon) diese Politik ab:

[Der Redner, Julius Hammer, bekämpft] speziell den dritten Punkt der hillquitschen Resoultion, der eine eventuelle Beschränkung der Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter vorsieht. Das ist vollkommen unsozialistisch. Eine gesetzliche Beschränkung der Einwanderung muss verworfen werden. Auf gesetzgeberischem Wege, durch Zusammenarbeiten mit den bürgerlichen Parteien, kann für den Sozialismus nichts erreicht werden. [Redner führt verschiedene Beispiele an] wie der Rassenhass in Amerika auch die Arbeiter verblende und zu Gewalttaten fortreisse. Die Japaner und Chinesen könnten sehr gut organisiert werden. Es sind keine so ungelernten Arbeiter, wie man wähnt. Sie lernen den Kapitalismus sehr wohl kennen und auch bekämpfen.

Das wurde von den italienischen Delegierten aufgenommen:

Man darf nicht die Auswanderer bekämpfen, sondern die Missbräuche, die aus der Auswanderung hervorgehen. Dem sind sich die italienische Partei und Gewerkschaften stets bewusst. Wir sind gegen die Beschränkung der Auswanderung, weil wir wissen, dass die Hungerpeitsche, die hinter den Auswanderern steht, härter ist als alle Gesetze der Regierungen.

Im Wesentlichen lassen sich diese Argumente genauso auf die heutige Situation anwenden. Die Position, welche an dieser Konferenz von den OpportunistInnen eingenommen wurden, ist komplett die gleiche wie jene der AnhängerInnen von Migrationsbeschränkungen heute. Die Resolution, welche am Stuttgarter Kongress verabschiedet wurde, wiederholte denselben Punkt:

Der Kongress vermag ein Mittel zur Abhülfe der von der Aus- und Einwanderung für die Arbeiterschaft etwa drohenden Folgen nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemassregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Auschluss fremder Nationalitäten oder Rassen.

Statt Migrationsbeschränkungen, welche sie als „im Wesen reaktionär“ ansah, schlug die Zweite Internationale eine Reihe von Massnahmen vor, welche die ArbeiterInnenbewegung im Aufnahmeland stärkte:

1. Verbot der Aus- und Einfuhr derjenigen Arbeiter, welche einen Kontrakt geschlossen haben, der ihnen die freie Verfügung über ihre Arbeitskraft wie ihre Löhne nimmt.

2. Gesetzlichen Arbeiterschutz durch Verkürzung des Arbeitstages, Einführung eines Minimallohnsatzes, Regelung des Sweatings-Systems und der Heimarbeit, strenge Aufsicht über die Wohnungsverhältnisse.

3. Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschliessen oder sie ihnen erschweren, weitgehendste Erleichterung der Naturalisation [Einbürgerung].

Zusätzlich wurde beschlossen, dass die Gewerkschaftsbewegung alle Einschränkungen für die Mitgliedschaft von MigrantInnen entfernen musste. Sie müsse ihr Bestes tun, um die Einbindung der MigrantInnen zu erleichtern und auf die Etablierung einer internationalen Gewerkschaftsbewegung und die Stärkung der Gewerkschaftsbewegung im Herkunftsland der MigrantInnen hinarbeiten.

Dieses internationalistische Programm steht in scharfem Kontrast zum Provinzialismus der heutigen Führung der ArbeiterInnenbewegung.

Es ist klar, dass die Rolle von migrantischen Arbeitskräften in kapitalistischen Gesellschaften  sich nicht fundamental geändert hat. Wie vor hundert Jahren schon, gibt es heute stetige Versuche der KapitalistInnenklasse, MigrantInnen zu benutzen, um Löhne und Arbeitsbedingungen zu drücken. Es lässt sich zwar darüber streiten, wie erfolgreich sie sind. Aber selbst wenn man zum Schluss kommt, dass MigrantInnen tatsächlich die bestehende ArbeiterInnenschaft unterbieten, folgt daraus nicht, dass man Migrationsbeschränkungen unterstützen muss. Ganz im Gegenteil. Die Rolle der Gewerkschaften und der politischen Parteien muss sein, nicht organisierte Arbeitskräfte einzubinden und auszubilden, um die Gewerkschaftsbewegung zu stärken. So muss man gegen alle Formen der Diskriminierung und gegen unterschiedliche Rechte für MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen kämpfen. Das bedeutet auch, MigrantInnen das Bleiberecht zuzugestehen, unabhängig von ihrer Beschäftigung.

Lenin und die Dritte Internationale

Wenig überraschend war Lenin auf der Seite der Linken am Stuttgarter Kongress. Er drückte seine Sorge über die Stärke des Opportunismus in der ArbeiterInnenbewegung aus:

Diese Abstimmung in der Kolonialfrage ist von ausserordentlicher Bedeutung. Erstens ist sie eine besonders anschauliche Selbstentlarvung des sozialistischen Opportunismus, der den bürgerlichen Lockungen nicht zu widerstehen vermag. Zweitens trat hier eine negative Eigentümlichkeit der europäischen Arbeiterbewegung zutage, die geeignet ist, der proletarischen Sache nicht geringen Schaden zuzufügen, und daher ernste Beachtung verdient.

Die Resolution zur Kolonialpolitik war mit einer knappen Mehrheit gewonnen worden, wobei die kleineren Nationen gegenüber den imperialistischen Kolonialnationen in der Überzahl waren. Lenin erklärte die Stärke des Opportunismus durch den Imperialismus, ein Argument, das er in seinem Buch Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus erneut machen würde. In der Migrationsfrage machte er denselben Punkt:

Über die Resolution zur Aus- und Einwanderungsfrage wollen wir nur einige Worte sagen. Auch hier wurde in der Kommission der Versuch gemacht, eng-zünftlerische Anschauungen zu verfechten, ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus den rückständigen Ländern (der Kulis aus China usw.) durchzuführen. Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger „zivilisierter“ Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen. Auf dem Kongress selbst fanden sich keine Verfechter dieser zünftlerischen und spiessbürgerlichen Beschränktheit. Die Resolution entspricht vollkommen den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie.

Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart

Lenin stimmte der Resolution zu und brachte die Ablehnung der Rechte der MigrantInnen mit der Unterstützung für den Imperialismus in Verbindung. Seine Einstellung zu dieser Frage, wie in allen anderen, war die des Internationalismus. Die Einstellung einer Schicht der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern war schädlich für die Einheit. Wie Lenin es formuliert, sind sie geneigt, „die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen“.

In seinem Artikel Kapitalismus und Arbeiterimmigration aus dem Jahr 1913 macht er einen ähnlichen Punkt:

Die Bourgeoisie hetzt die Arbeiter der einen Nation gegen die der andern auf und sucht sie zu trennen. Die klassenbewussten Arbeiter, die begreifen, dass die Zerstörung aller nationalen Schranken durch den Kapitalismus unumgänglich und fortschrittlich ist, bemühen sich, die Aufklärung und Organisierung ihrer Genossen aus den zurückgebliebenen Ländern zu unterstützen.

1915 kehrt er zu dem Thema zurück:

In unserem Kampfe für den wahren Internationalismus gegen die „Jingo-Sozialisten“ verweisen wir in unserer Presse stets auf die Führer der Kompromisspolitik in Amerika (in der SP), die für die Beschränkung der Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter sind (insbesondere nach dem Stuttgarter Kongress von 1907, im Gegensatz zu dessen Beschlüssen). Wir denken, dass niemand Internationalist sein und gleichzeitig für derartige Beschränkungen eintreten kann. Wir behaupten: wenn, von allem anderen abgesehen, amerikanische und insbesondere englische Sozialisten, einer herrschenden und unterdrückenden Nation angehörig, sich nicht gegen Einwanderungsbeschränkungen jedweder Art und gegen die Besitzergreifung von Kolonien (Hawaii-Inseln) wenden, wenn sie nicht für die volle Unabhängigkeit der letzteren eintreten, so sind solche Sozialisten in Wirklichkeit ‚Jingos‘.

Brief an die Liga für Sozialistische Propaganda in Amerika

Lenins Position ist vollkommen klar. Es kann kein Gerede über Einwanderungsbeschränkungen geben. Solch eine Position ist „Jingo-Sozialismus“ und steht in absolutem Gegensatz zu einer internationalistischen Politik. Lenin macht denselben Punkt über die vorteilhaften Effekte der Immigration im Artikel von 1913:

Es besteht kein Zweifel, dass nur äusserstes Elend die Menschen veranlasst, die Heimat zu verlassen und dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschliessen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den grossen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander vereinigt.

Lenins Position ist vollkommen klar. Es kann kein Gerede über Einwanderungsbeschränkungen geben. Solch eine Position ist „Jingo-Socialism“ und steht in absolutem Gegensatz zu einer internationalistischen Politik/Bild: öffentliches Eigentum

Das Problem der Migration muss vom Standpunkt der internationalen ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Auch wenn sie oft sehr traumatisierend und tragisch ist für jene, denen sie aufgezwungen wird, spielt Migration eine historisch progressive Rolle, weil sie dem Niederreissen nationaler Schranken, Vorurteile und Gewohnheiten dient. Auf lange Sicht wird so eine Entwicklung die ArbeiterInnenbewegung nur stärken, sowohl national wie auch international.

Die Dritte Internationale veröffentlichte an ihrem vierten Kongress ebenfalls ein Statement zur Frage der migrantischen Arbeitskräfte. In den Leitsätzen zur Orientfrage kann man folgendes Lesen:

Die Kommunistischen Parteien der imperialistischen Länder Amerika, Japan, England, Australien und Kanada sind verpflichtet, sich angesichts der drohenden Gefahr nicht nur auf eine Propaganda gegen den Krieg zu beschränken, sondern alle Anstrengungen zur Beseitigung der Faktoren zu machen, die die Arbeiterbewegung in diesen Ländern desorganisieren und die Ausnützung der Gegensätze zwischen den Nationen und Rassen durch die Kapitalisten verstärken. Diese Faktoren sind: die Einwanderungsfrage und die Frage der billigen farbigen Arbeitskräfte.

Das Kontraktsystem bildet noch heute die Hauptmethode für die Anwerbung farbiger Arbeiter auf den Zuckerplantagen im südlichen Teil des Stillen Ozeans, wohin die Arbeiter aus China und Indien gebracht werden. Dieser Umstand veranlasste die Arbeiter der imperialistischen Länder, eine Einführung von Gesetzen gegen die Einwanderung und gegen die farbigen Arbeiter zu fordern, sowohl in Amerika als auch in Australien. Diese Gesetze vertiefen den Gegensatz zwischen den farbigen und den weissen Arbeitern, zersplittern und schwächen die Einheit der Arbeiterbewegung.

Die Kommunistischen Parteien Amerikas, Kanadas und Australiens müssen eine energische Kampagne führen gegen die Gesetze zur Verhinderung der Einwanderung und müssen den proletarischen Massen dieser Länder klarmachen, dass solche Gesetze, indem sie den Rassenhass schüren, letzten Endes ihnen selbst zum Schaden gereichen.

Andererseits verzichten die Kapitalisten auf Gesetze gegen die Einwanderung, um die freie Einfuhr billiger farbiger Arbeitskräfte zu ermöglichen und auf diese Weise die Arbeitslöhne der weissen Arbeiter herabzudrücken. Diese Absicht der Kapitalisten, zum Angriff überzugehen, kann nur durch ein Mittel erfolgreich vereitelt werden: die einwandernden Arbeiter müssen in die bestehenden Gewerkschaften der weissen Arbeiter aufgenommen werden. Gleichzeitig muss gefordert werden, dass die Entlohnung der farbigen Arbeiter den Arbeitslöhnen der weissen Arbeiter gleichgestellt wird. Ein solcher Schritt der Kommunistischen Parteien wird die Absichten der Kapitalisten entlarven und den farbigen Arbeitern gleichzeitig anschaulich zeigen, dass das internationale Proletariat keine Rassenvorurteile kennt.“

Auch hier wird nicht in Frage gestellt, dass die KapitalistInnen versuchen Arbeitskräfte zu importieren, um Löhne zu senken. Aber das „kann nur durch ein Mittel erfolgreich vereitelt werden: die einwandernden Arbeiter müssen in die bestehenden Gewerkschaften der weissen Arbeiter aufgenommen werden“ (meine Hervorhebung). Die Forderung nach der Angleichung der Löhne der migrantischen ArbeiterInnen wird „die Absichten der Kapitalisten entlarven“ und, das kann man nicht genug betonen, anschaulich zeigen, dass das internationale Proletariat keine Rassenvorurteile kennt.

Anti-Imperialismus?

Die linken BefürworterInnen der Zuwanderungsbeschränkungen rechtfertigen Einwanderungsbeschränkungen manchmal, in dem sie sich auf internationale Solidarität beziehen. Sicherlich ist die Migration schlecht für die Länder, aus denen die Menschen emigrieren. Sollten wir nicht stattdessen die Bedingungen dort verbessern? Das klingt ja schön und recht, aber die Frage ist, wie wir die Bedingungen verbessern sollen? Desweitern: Angesichts der Tatsache, dass die ArbeiterInnenklasse nicht wirklich an der Macht ist, welche Forderungen können uns helfen, dorthin zu gelangen?

Trotz all den frommen Phrasen der Staatsoberhäupter, sorgen sie sich immer zuerst um ihre eignen Interessen. Trump befürwortet Grenzen sowohl für Waren, wie auch für MigrantInnen. Der ganze Sinn und Zweck protektionistischer Schranken für Waren ist, die Arbeitslosigkeit in andere Länder zu exportieren. Dasselbe gilt für MigrantInnen. Indem die amerikanische herrschende Klasse MigrantInnen draussen hält, wehrt sie den Klassenkampf zu Hause ab, zu Lasten von Mexiko und zentralamerikanischer Länder, versteht sich. Dann versucht die amerikanische herrschende Klasse den mexikanischen Staat zu verwenden, um die Migrationsstörme aus Zentralamerika zu überwachen, und sie in Mexiko anzusiedeln. Das ist auch die Politik der DemokratInnen und des sogenannten liberalen Establishments, wenn sie auch weniger ausdrücklich verfolgt wird. Das ist ziemlich genau die gleiche Politik wie die EU gegenüber der Türkei verfolgt. So funktioniert der Imperialismus.

Nagle führt korrekterweise die militärischen Abenteuer der USA als einer der Hauptfaktoren der Migrationsströme an, aber das ist nur ein Teil der Geschichte / Bild: Ggia

In einem noch empörenderen Statement schlug der deutsche Afrikabeauftragte Günter Nooke vor, dass europäische Länder in Afrika Land mieten, um Städte zu bauen, welche die MigrantInnen absorbieren und die Wirtschaft entwickeln könnten. Mit anderen Worten, eine Rückkehr zum Kolonialismus. Ein ähnlicher Vorschlag wurde vom reaktionären Präsident Lobos in Honduras gemacht. Im Grunde wäre das nur ein nackter Ausdruck dessen, was die imperialistischen Kräfte in Sonderwirtschaftszonen sowieso schon machen. Bei all den hübschen Phrasen über Entwicklung hilft so eine Politik niemanden ausser ihnen selbst.

In der gängigen Vorstellung dienen Wohltätigkeitsorganisationen und Entwicklungshilfe natürlich dem Zweck, den verarmten Massen der Welt zu helfen. In Wahrheit füllen Wohltätigkeitsorganisationen vor allem ihre eigenen Taschen und jene von korrupten Regierungsbeauftragten auf der ganzen Welt. Die ArbeiterInnen und die Armen müssen sich mit Brotkrumen begnügen. Im besten Falle sind sie ein Pflaster für die Schäden, die ihnen von den Armeen und den Banken imperialistischer Nationen zugefügt wurden.

Nagle führt korrekterweise die militärischen Abenteuer der USA als einer der Hauptfaktoren der Migrationsströme an. In der Tat hat die Destabilisierung des Nahen Ostens dazu geführt, dass Millionen von Menschen ihrer Heimat und Lebensgrundlage beraubt wurden. Hier sind wir uns ganz einig. Eine Vorbedingung muss eine klare Ablehnung des US Imperialismus sein.

Aber Krieg oder die politische Repression sind nicht die einzigen Gründe für Migration. Ein Faktor, der zur MigrantInnenkaravane beiträgt, ist der Kaffeepreis. Der Imperialismus hat einen Grossteil Zentralamerikas vom Kaffeeexport abhängig gemacht. Als der brasilianische Real (Währung) fiel, traf das die Konkurrenten von Brasiliens KaffeebäuerInnen hart. Der Preis von 2$ pro Kilo Arabica-Kaffeebohnen deckt die Produktionskosten nicht. Da es keine andere Beschäftigungsmöglichkeit gibt, wurden KaffeebäuerInnen in die Migration gedrängt. Gleichzeitig verkaufen Unternehmen wie Starbucks ihren Kaffee für $50 pro Kilo. Das ist die Rolle der multinationalen Konzerne in der Weltwirtschaft und ihr Beitrag zu den Migrationsströmen.

Tatsächlich bringt es nichts, darüber zu reden, die Bedingungen in der ehemaligen kolonialen Welt zu ändern, ohne den Kapitalismus und den Imperialismus herauszufordern. Das ganze 20. Jahrhundert zeigt die Nutzlosigkeit eines Anti-Imperialismus ohne Antikapitalismus und Sozialismus. Eben genau weil der Imperialismus innerlich verbunden ist mit dem Kapitalismus, muss der Kampf gegen den Imperialismus mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden werden. Jeder andere Vorschlag, insbesondere, wenn er aus der ArbeiterInnenbwegung in den imperialistischen Ländern kommt, würde dem Imperialismus nur als linker Deckmantel dienen. Die ArbeiterInnen der imperialistischen Länder müssen sich mit den ArbeiterInnen der ehemals kolonialen Welt verbinden, in dem sie gegen ihre eigene imperialistische Bourgeoisie kämpfen. Das ist echte internationale Solidarität.

Eine neue Periode

In unserem Programm geht es nicht um eine Übereinkunft mit der kapitalistischen Klasse, sondern um die Einheit der ArbeiterInnen jenseits der Grenzen: Für die Verteidigung ihrer Arbeitsbedingungen, gegen Kürzungen und für eine sozialistische Revolution / Bild: öffentliches Eigentum

Es ist eine der Besonderheiten der gegenwärtigen Periode, dass die ArbeiterInnenbewegung infiziert ist mit Nostalgie für die vergangene Zeit. Unter dem Spardruck bei den öffentlichen Diensten und den Angriffen auf Löhne und Arbeitsbedingungen, sehnen sich viele ArbeiterInnen zurück nach einer vergangenen Epoche der Stabilität und der Wohlfahrt; nach einer Zeit, in der KapitalistInnen und Gewerkschaften Vereinbarungen über die Lohnsteigerungen, nicht Lohnsenkungen, getroffen haben und als politische Parteien Reformen versprachen – und diese Versprechen auch hielten. Eine Zeit in der das Wort „Reform“ tatsächlich Verbesserungen bedeutete für die Bedingungen der ArbeiterInnenklasse, nicht Angriffe und Kürzungen. Aber diese Periode ist vorbei und wird nicht zurückkehren.

Die Ursache der Krise sind nicht die MigrantInnen und auch nicht schlechte Ideen („Neoliberalismus“), sondern die Schranken des Kapitalismus selbst. Das hat gewisse Konsequenzen. Die ReformistInnen und GewerkschaftsführerInnen tappen in die Falle, dass sie ihre Herangehensweise an die Migration darauf basieren, wie viele MigrantInnen der Kapitalismus sich leisten kann. Wie viele MigrantInnen können wir aufnehmen, bevor sie die Löhne drücken? Wie viele MigrantInnen passen in unsere Schulen, Wohnungen und Spitäler? Das war schon in den 1950ern und den 1960ern falsch, aber es ist eine desaströse Logik in der Periode der Fäulnis des Kapitalismus. Die Antwort ist, dass der Kapitalismus sich nicht leisten kann, bestehende Löhne und Arbeitsbedingungen aufrecht zu erhalten, ob es jetzt MigrantInnen gibt, oder nicht. Die Grenzen zu schliessen, ja MigrantInnen sogar auszuschaffen, ändert an diesem Umstand nichts Grundsätzliches. Es wäre, als würde man versuchen, seinen Durst mit Salzwasser zu löschen.

Die Realität des Kapitalismus in der aktuellen Periode ist, dass es Geld gibt, um Wohnungen, Schulen etc. für alle Flüchtlinge der Welt anzubieten, aber es ist in privater Hand. Die Ressourcen, um der gesamten Weltbevölkerung einen angemessenen Lebensstandard zu bieten, existieren. Aber sie sind in den Fängen einer kleinen Gruppe von Milliardären und multinationalen Konzernen konzentriert. Diese Ungleichheit wird nur schlimmer.

In unserem Programm geht es nicht darum, eine Übereinkunft mit der kapitalistischen Klasse zu finden, was nur zu Lasten der ArbeiterInnenklasse gehen könnte, sei sie nun migrantisch oder nicht. Unser Programm muss eines der Einheit der ArbeiterInnen jenseits der Grenzen sein: In der Verteidigung ihrer Arbeitsbedingungen, gegen Kürzungen und für eine sozialistische Revolution. Die Resolution, welche der Stuttgarter Kongress der Zweiten Internationale vorbrachte, beinhaltet tatsächlich die wichtigsten Elemente: Verteidigung der kollektiven Vereinbarungen und Geschäftsbedingungen, ein Kampf für die Verbesserung der Lage aller ArbeiterInnen, für gleiche Rechte für migrantische wie nicht migrantische ArbeiterInnen, inklusive dem Bleiberecht, dem Recht auf Gesundheitsversorgung, soziale Unterstützung und Unterkunft etc. Des Weiteren müssen wir darauf bestehen, dass international Verbindungen zwischen den Gewerkschaften geschaffen werden und die Verbindungen zwischen den Organisationen der ArbeiterInnenklasse auf der ganzen Welt verstärkt werden. Solch eine Herangehensweise ist die beste Verteidigung der bestehenden Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnenklasse gegen den Angriff der herrschenden Klasse, aber sie ist auch die beste Vorbereitung für eine weltweite sozialistische Revolution.

Von Niklas Albin Svensson
In Defence of Marxism
Original: Why Marxists oppose immigration controls, 20. Dezember 2018