In Bankenkrisen, Wirtschaftkrisen, Rezessionen und nicht zuletzt im Krieg treten die Widersprüche des Kapitalismus auf die übelste Art und Weise zutage. Die Grundlagen dieses Systems und seine Auswüchse zu analysieren ist Aufgabe von uns MarxistInnen. Denn nur MarxistInnen haben dafür ein Werkzeug zur Hand, das keine bürgerliche Sozial- oder Wirtschaftswissenschaft hervorbringen kann. Gemeint ist die dialektische Methode von Karl Marx und Friedrich Engels.
Mit Hilfe des Marxismus können wir die politische und ökonomische Entwicklung der Welt verstehen und Perspektiven für die Zukunft ableiten. Der Marxismus ist dabei keine Ideologie, welche schematisch über die Welt gepresst wird, um zu versuchen jedes Detail aus einem „marxistischen Gesetz“ zu erklären, sondern ein Werkzeug, das uns hilft, ökonomische und politische Zusammenhänge zu erkennen und das auch selbst immer wieder den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss.
Die momentane Weltlage ist geneigt revolutionäre Erhebungen hervorzubringen.
Das sehen wir nicht nur in Lateinamerika. Auch in Europa nehmen die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit – und damit auch nicht zuletzt die soziale Kluft zwischen Arm und Reich – immer weiter zu. Dies führt auch in Europa und in Deutschland zu einem Aufschwung in sozialen Bewegungen und Klassenkämpfen. Als MarxistInnen wollen wir diese Welt aber nicht nur analysieren; wir wollen nicht nur Beobachter bleiben. Wir wollen dieses System verändern. Dazu gilt es aber aus den Analysen und Perspektiven, Programme, Forderungen und Slogans abzuleiten. Welches sind aber die „richtigen“ Programme und Forderungen?
Die Antwort darauf erhalten wir, wenn wir uns überlegen, welche Macht in dieser Gesellschaft die Kraft hat, den Kapitalismus tatsächlich ins Reich der Geschichte zu verbannen und ein demokratische, sozialistische Gesellschaft aufzubauen, die an den Bedürfnissen der Menschen orientiert ist. Dies kann nur die Arbeiterklasse, die übergroße Mehrheit der lohnabhängig Beschäftigten, sein. Nun sind die objektiven Voraussetzungen für den Sozialismus schon längst gegeben. Es wird schon im Kapitalismus von allem mehr als genug produziert, die notwendige Arbeit könnte auf alle verteilt und die Wirtschaft und Gesellschaft demokratisch geplant werden. Demgegenüber wird die Notwendigkeit für den Sozialismus von der Mehrheit derjenigen, die ihn erkämpfen sollen noch nicht erkannt. Für die meisten Menschen ist klar, dass ihnen dieses System keine sichere Zukunft bieten kann. Sie sind gefährdet von Reallohnverlusten, Arbeitslosigkeit durch Abwanderung von Betrieben, Sozialabbau und noch vielem mehr. Wir brauchen also Programme und Forderungen, die an diesen existenziellen Fragen für die Arbeiterklasse anknüpfen und diese zu der Forderung nach einer sozialistischen Gesellschaft hin weiterentwickeln. Also Programme, die nicht nur hier und heute für einige kleine soziale Verbesserungen stehen, sondern in jedem Punkt über das kapitalistische System hinausweisen und damit in der Lage sind, die Mehrheit der Menschen mit uns in den Kampf für eine bessere Welt einzubeziehen. Von diesem Standpunkt aus ist klar, dass in einem solchen Programm die Frage nach Reform und Revolution nicht getrennt werden kann, sondern es muss ein Programm sein, das die Brücke schlägt, den „Übergang“ aufzeigt zwischen Reform und Revolution – in diesem Sinne also ein Übergangsprogramm.
Der Reformismus und sein historischer Ursprung
Der Widerspruch zwischen Reform und Revolution ist fast so alt wie der Kapitalismus selbst. Keine Idee entsteht aus dem Nichts. Jede Idee hat eine materielle Grundlage. So kam auch die Idee, man könne den Kapitalismus graduell, durch immer weitere parlamentarische Reformen überwinden, nicht von ungefähr, sondern entwickelte sich aus den gesellschaftlichen Bedingungen in denen die FührerInnen der Arbeiterbewegung ab Ende des 19. Jahrhunderts in das kapitalistische System integriert wurden. Der Verräter Bernstein, der Renegat Kautsky und der Bluthund Noske fielen nicht vom Himmel, sondern waren Produkte ihrer Zeit. Von solchen Leuten, die die revolutionäre Umwälzung des kapitalistischen Systems vom Grunde ihres Herzens verabscheuten, wurde der ursprüngliche Widerspruch zwischen Reform und Revolution konstruiert. Die Trennung in Minimalforderungen, Reformen die auch innerhalb des kapitalistischen Systems durchsetzbar sind, und Maximalforderungen, die sozialistische Gesellschaft, wurden zur Grundlage jedes sozialdemokratischen Programms. Dadurch wurde das Agieren in den Parlamenten zur Grundlage jeden politischen Handelns zur Durchsetzung der politischen Minimalforderungen, während die Maximalforderungen auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurden. Das ist bis heute im wesentlichen die programmatische Ausrichtung von Gewerkschaften, SPD und auch der Linken. Für viele Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre sowie Abgeordnete geht die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus verloren, weil sie in ihrer Kleinarbeit die großen Zusammenhänge zu verlieren drohen und innerhalb dieses Systems oftmals ein ganz gutes Auskommen, Privilegien und Prestige genießen. Für die ausgebeuteten Klassen in dieser Gesellschaft gilt das nicht.
Die Bernsteinsche Revision des Marxismus und damit die Trennung in Minimal- und Maximalprogramm wurde schon von Rosa Luxemburg in ihrem Buch „Sozialreform oder Revolution“ kritisiert. Darin betont sie, dass immer nur „Revolutionäre die besten Reformer“ sind. Wer also, konsequent für Verbesserungen der ausgebeuteten Klasse streiten will, kann dies nur mit einer revolutionären Perspektive tun. Ohne diese Perspektive ist man genötigt sich den „Sachzwängen“ des Kapitalismus unterzuordnen, wodurch die Möglichkeiten für Reformen schließlich mehr als eng werden. Die konkrete Ausformulierung eines Programms, das Reform und Revolution verbindet, lieferte schließlich Leo Trotzki in seinem Buch „Das Übergangsprogramm“. Viele der darin enthaltenen Forderungen sind heute aktueller denn je. Trotzki betonte dabei vor allem den mobilisierenden Charakter von Übergangsforderungen, also die Möglichkeit mit ihnen immer breitere Schichten der Bevölkerung mit in den Kampf um eine sozialistische Gesellschaft einzubeziehen. Sowie die Tatsache, dass der Reformismus von der herrschenden Klasse oft dazu benutzt wird, mittels kleinerer Zugeständnisse und Umverteilungen die Arbeiterklasse ruhig zu stellen.
Der Reformismus und der Charakter des bürgerlichen Staates
Der Reformismus hatte eine relative Existenzberechtigung, als der Spielraum für Reformen innerhalb des Kapitalismus noch gegeben war, wurde aber im weiteren Verlauf immer weiter zum Antireformismus a la Schröder und Blair. Die Überzeugung, man könne auf parlamentarischem Weg wesentliche Änderungen dieses Gesellschaftssystems herbeiführen, setzt fundamentale Illusionen in den Charakter des Staates voraus. Schon Marx und Engels erkannten, dass der Staat kein unabhängiges Konstrukt ist, sondern ein Produkt der jeweiligen Klassengesellschaft, in der er entsteht. Er ist ein Instrument der herrschenden Klasse. Im Extremfall ein Unterdrückungsinstrument und im Normalfall eine Möglichkeit, den Klassenkampf in institutionelle Bahnen zu lenken, mittels des Parlaments demokratische Teilhabe zu simulieren und einen Ausgleich zwischen den einzelnen Sektoren des Kapitals zu schaffen. Als MarxistInnen sind wir nicht dagegen, die bürgerlichen Freiheiten zu nutzen, solange sie uns geboten werden. Wir müssen uns aber davor hüten, Illusionen in das System der bürgerlichen Demokratie zu entwickeln oder uns in dieses integrieren zu lassen.
Demgegenüber dürfen wir uns aber auch nicht der Mitarbeit in den Organen der bürgerlichen Demokratie, also den Parlamenten, verweigern. Wir müssen es verstehen, diese als Tribüne zur Verbreitung revolutionärer Ideen zu nutzen. Denn als MarxistInnen gehen wir von den gegebenen gesellschaftlichen Umständen aus und wollen diese verändern. Dies schaffen wir nur, wenn wir in der Lage sind, die große Masse der Menschen zu erreichen, die noch dieser Gesellschaftsformation verhaftet sind, also mit ihnen auch innerhalb des Kapitalismus für Verbesserungen kämpfen, dabei aber eine revolutionäre Perspektive aufzeigen können.
Das Übergangsprogramm
Was ist nun der Charakter eines Übergangsprogramms? Wie entsteht dieses aus dem Kampf für Tagesforderungen, wie höheren Löhnen, Abschaffung von Studiengebühren, Lehrmittelfreiheit, Arbeitszeitverkürzung usw.? Mit dem Kampf um solche Errungenschaften kann man eine wachsende Anzahl unzufriedener Menschen miteinbeziehen. Solche Forderungen müssen aber auch durchgesetzt werden. Dies funktioniert aber nicht nur auf parlamentarischem Wege, sondern vor allem über Streiks und Massenbewegungen. Die unweigerliche Folge wäre der erbitterte Widerstand der herrschenden Klasse, aus deren Profiten solche Reformen letztendlich finanziert werden müssten. Also schon der Versuch der Durchsetzung eines reinen Minimalprogramms, wie es sogar die SPD vor 30 Jahren vertrat, rüttelt heute an den Grundfesten des Systems.
Wollen wir nun ein Programm haben, das nicht nur am System rüttelt, sondern die Herrschaft des Kapitals auch aktiv in Frage stellt, müssen wir den Tagesforderungen Übergangscharakter verleihen. Das heißt, wir müssen sie verbinden mit der Forderung nach Umsetzung unter demokratischer Kontrolle der Arbeiterklasse. Zum Beispiel Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle oder Kontrolle der Preise zum Kampf gegen die Inflation durch demokratisch gewählte Räte der Arbeiterklasse. Nur so ist sichergestellt, dass nicht einzelne Forderungen als Zugeständnisse seitens des Kapitals getätigt werden um eine Massenbewegung abzuwürgen. Im Extremfall ist die herrschende Klasse zu allen möglichen materiellen Zugeständnissen bereit, nur um letztenendes Besitz und Macht weiter in den Händen zu behalten. Nach dem Abflauen einer revolutionären Bewegung können dann viele Zugeständnisse einfach wieder zurückgenommen werden.
Die Organe der Arbeiterkontrolle stellen aber das embryonale Stadium eines ganz anderen Gesellschaftssystems, des Sozialismus, dar. Diese entstehen schon innerhalb des Kapitalismus zum Beispiel durch Betriebsbesetzungen und Wiederaufnahme der Produktion unter Selbstverwaltung. Minimalforderungen allein können eine demobilisierende und einlullende Wirkung auf eine Massenbewegung haben, die sie durchsetzen will. Im Gegensatz dazu sehen wir am Beispiel Venezuela heute, dass Übergangsforderungen mobilisierenden Charakter haben. Dort zieht die Bewegung für die Verstaatlichung von Betrieben unter Arbeiterkontrolle immer breitere Schichten, immer mehr Belegschaften in ganz Lateinamerika mit in diesen Kampf.
Denkt man dann einen ganzen Katalog von Übergangsforderungen und deren Durchsetzung logisch zuende, kommt man darauf, dass für die Durchsetzung aller Forderungen eine fundamentale Umwälzung, sprich eine Revolution unvermeidlich ist. Sie sind letzten Endes nur gänzlich umsetzbar, wenn der Reichtum und die Mittel mit denen dieser produziert wird, der herrschenden Klasse entrissen wird und die politische und ökonomische Macht an die arbeitende Bevölkerung und die revolutionäre Jugend übergeht, welche dann anfangen, die Gesellschaft wirklich demokratisch zu planen und zu verwalten.
Stellen wir uns den Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus bildhaft vor. Wir haben eine lange Wegstrecke vor uns, können mit Kompass und Landkarten umgehen, aber ein riesiger Felsblock mit Namen Kapitalismus versperrt uns die Weiterreise. Reformisten würden mit Hammer und Meißel versuchen, in „kleinen Schritten“ den Felsblock abzutragen und die Kanten zu schleifen. So werden sie aber nie und nimmer das Hindernis aus dem Weg räumen und sich selbst schließlich demoralisieren. Andere wiederum würden sich moralisch über das Hindernis entrüsten und mit Anlauf wegzuschieben versuchen – und sich dabei höchstens eine blutige Nase und Knochenbrücke einhandeln. Marxisten würden das Hindernis und seine Struktur zuerst analysieren und auf dieser ermitteln, an welcher Stelle der Block – mit Dynamit und anderen Hilfsmitteln – gesprengt und beiseite geschafft werden kann – und dann zur Tat schreiten (wobei das mit dem Dynamit politisch und nicht wörtlich zu verstehen ist, denn Marxisten sind keine individuellen Terroristen!) und den Weg frei machen und die Reise in eine sozialistiche Zukunft fortsetzen.
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