In vielen deutschen Städten regt sich Widerstand gegen die explodierenden Mieten. Erst in Berlin und dann in ganz Deutschland kommt bei den DemonstrantInnen eine Forderung auf, die lange Tabuthema war: Die Enteignung.
Am Samstag 6. April gingen in 19 deutschen Städten Zehntausende auf die Strasse. Allein in Berlin demonstrierten 40’000 Menschen gegen die unerträglich gewordenen Mietpreise. Seit 2008 sind diese in Berlin von 5,60€ um 104% auf 11,40€ pro Quadratmeter gestiegen. Da die Löhne seit 20 Jahren stagnieren, frisst die Miete einen immer grösseren Teil davon auf. In den Grossstädten bleibt zwei Millionen Menschen nach Abzug der Miete weniger als das das Existenzminimum.
Die BerlinerInnen suchten nach Lösungen für ihre Probleme. Aus der angeblichen Alternativlosigkeit erwächst jetzt bei vielen die Forderung nach Enteignung. Das lässt Immobilienhaie und Bürgerliche schaudern.
Während sich die Lage für die Mehrheit immer weiter verschlimmert, profitiert eine kleine Minderheit davon: Immobilienkonzerne und die Finanzbourgeoisie. Denn in Zeiten der kapitalistischen Krise und kaum profitablen Investitionsfelder sind Wohnungen gute Anlageobjekte, die auch in Zukunft noch satte Profite abwerfen können. Die neuen Gesetze, um die Mietpreisexplosion zu verhindern, waren leicht umgehbare Hindernisse für die KapitalistInnen, die ungebremst die lohnabhängigen Mieter weiter ausquetschen können. Die Idee, den Kapitalismus regulieren zu können, ist so offensichtlich auch in der Wohnungsfrage gnadenlos gescheitert.
Die Initiatoren von «Deutsche Wohnen & Co enteignen» planen ein Volksbegehren zur Enteignung von Immobilienkonzernen in Berlin. Sie schreiben: «Gesellschaften mit mehr als 3’000 Wohnungen sollen in öffentliches Eigentum überführt werden. Die Entschädigungszahlungen für die Enteignung sollen deutlich unterhalb des Marktwerts liegen.» Die in Gemeineigentum überführten Bestände sollen unter demokratischer Beteiligung von Stadtgesellschaft und MieterInnen verwaltet werden. Insgesamt geht es in Berlin um 200’000 Wohnungen. Allein die Hälfte davon besitzt der Konzern «Deutsche Wohnen».
Doch ein Volksbegehren ist weniger als eine Schweizer Initiative. Stimmt die Mehrheit dafür, ist es ein politischer Auftrag und soll vom Parlament umgesetzt werden. Bindend ist das Begehren allerdings nicht. Trotzdem ist die breite Zustimmung zur Enteignungsidee – ein wesentlicher Punkt eines sozialistischen Programms – Ausdruck einer breiten Radikalisierung.
Neben der Diskussion, ob Enteignung verfassungskonform ist oder damit Investoren verschreckt würden, ist ein Argument wichtig und ironischerweise auch vollkommen richtig: Enteignung mit Entschädigungszahlungen würde Berlin circa 30 Milliarden kosten. Doch die Hauptstadt hat aktuell 58 Milliarden Euro Schulden. Die Frage ist: Warum sollten wir denjenigen Unternehmen Entschädigungen zahlen, die sich so lange auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung bereicherten? Und warum sollten wir Häuser kaufen, die wir selbst gebaut haben?
Das grundlegende Problem ist das Privateigentum an Grund und Boden und der Profitzwang, der notwendigerweise im Kapitalismus herrschen muss. Im Kapitalismus sind Wohnungen nicht dazu da, das Grundbedürfnis zu befriedigen, ein Dach über den Kopf zu haben. Sie sind dazu da, Profit daraus zu schlagen. Der massive Rückgang an staatlichen Sozialwohnungen und die Wohnungsnot gehören auch zur Strategie der Kapitalisten, denn sie schafft noch günstigere Profitbedingungen: Am Markt, wo sich immer Vermieter und Mieter gegenüberstehen, ist das Angebot viel kleiner als die Nachfrage. Die Mieter werden zu Konkurrenten. Alles zum Vorteil der VermieterInnen: Sie können die Preise in die Höhe schrauben.
Die Forderung nach Enteignung findet immer mehr Anklang in einem Land, das als Exportweltmeister und Gewinner im globalen Kapitalismus gilt. Während deutsche KapitalistInnen gewinnen, ertragen ArbeiterInnen nur neue Verschlechterungen. Die ungleiche Entwicklung hat sich auch in der Wohnungsfrage so zugespitzt, dass eine Bewegung wächst, die mit der Enteignung die heilige Kuh der KapitalistInnen in Frage stellt: das Privateigentum (an Wohneigentum). Aus der Bewegung entstanden, muss die Idee weiterentwickelt, geplant und konsequent umgesetzt werden. So können die ArbeiterInnen beweisen, dass sie nicht nur Wohnungen organisieren können sondern eine ganze Gesellschaft. Diesen ersten Schritt dorthin unterstützen wir mit voller Kraft.
Ivo Müller
Marxist Society Uni Basel
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024